"Uns hat es doch auch nicht geschadet"...
- Sina Schumacher

- 2. Dez. 2024
- 4 Min. Lesezeit
... oder etwa doch?!
"Uns hat es doch auch nicht geschadet" – Ein genauer Blick auf vergangene Erziehungspraktiken
Der Satz "Uns hat es doch auch nicht geschadet" fällt oft in Diskussionen über Erziehungsstile, vor allem von unseren Eltern und Großeltern.
Am Wochenende ist eine Freundin auf mich zugekommen und hat nach Argumenten gesucht, die sie parat haben kann, wenn sie mit diesem Satz mal wieder in Bezug auf die Bindung zu ihrem Kind konfrontiert wird. So entstand die Idee für diesen Blogbeitrag. Und es stimmt, besonders bei Themen wie Bindung, Verwöhnen oder der Umgang mit dem Schreienlassen von Babys scheiden sich die Geister zwischen den Generationen. Doch hat es ihnen wirklich nicht geschadet? Und was ist "nicht Schaden" überhaupt als Anspruch an den Umgang mit unseren Kindern? Ein genauerer Blick zeigt, dass die Auswirkungen mancher Praktiken subtiler, aber dennoch spürbar sind.
Bindung als Basis für psychische Gesundheit
Eine sichere Bindung ist die Grundlage für ein gesundes emotionales und soziales Leben, das ist wissenschaftlich belegt. Dennoch haben manche junge Eltern heutzutage das Gefühl sich rechtfertigen zu müssen, wenn sie ihr Baby bei sich tragen wollen, sie sofort auf Schreien reagieren, oder lange stillen. Früher herrschte oft die Meinung, dass zu viel Nähe oder das schnelle Reagieren auf das Weinen eines Kindes das Kind "verwöhnt" oder es abhängig macht. Heute wissen wir durch zahlreiche Studien, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Kinder, die in ihren frühen Bedürfnissen verlässlich unterstützt werden, entwickeln mehr Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit. Eine sichere Bindung stärkt das Exploratonsbedürfnis.
Menschen, die in ihrer Kindheit häufig das Gefühl hatten, mit ihren Emotionen und Bedürfnissen allein zu sein, können als Erwachsene Schwierigkeiten haben, enge Beziehungen einzugehen oder Gefühle wie Unsicherheit und Stress adäquat zu regulieren. Vielleicht haben sie gelernt, ihre Gefühle zu unterdrücken, weil sie dafür keinen Raum hatten – eine Prägung, die in ihrer Lebensqualität widerhallen kann.
Schreien lassen – Ein früher Umgang mit Stress
Das Schreienlassen war früher eine verbreitete Methode, um Babys an feste Schlafenszeiten zu gewöhnen. Die zugrunde liegende Annahme war, dass Babys lernen müssten, "sich selbst zu beruhigen". Heute wissen wir, dass das lange Schreien ohne Trost für das Baby enormen Stress bedeutet. Wenn das Baby irgendwann von alleine aufhört zu schreien, hat es lediglich gelernt, nicht gehört zu werden, mit seinen Gefühlen alleine zu sein und aufgegeben nach Hilfe zu rufen. Im Gehirn eines Babys führt chronischer Stress zur Ausschüttung von Cortisol, was die Entwicklung beeinträchtigen kann.
Viele Erwachsene tragen die Folgen solcher Erfahrungen mit sich – nicht als bewusste Erinnerungen, sondern in Form von innerer Unruhe, Stressanfälligkeit, Schlafstörung oder Schwierigkeiten, anderen Menschen zu vertrauen. Da wir uns erst an Erinnerungen ab circa dem 3. Lebensjahr erinnern können, sind diese Muster vielleicht nicht immer offensichtlich, sie können aber durchaus in herausfordernden Lebenssituationen zutage treten.
"Uns hat es doch auch nicht geschadet" – ein Mechanismus der Verdrängung?
Es ist menschlich, schmerzhafte Erfahrungen herunterzuspielen oder zu rationalisieren. Wenn die vorherige Generation sagt, "es hat uns nicht geschadet", könnte das auch ein Versuch sein, die eigenen schwierigen Gefühle oder Erfahrungen die gemacht wurden, zu relativieren. Besonders in Zeiten, in denen emotionale Bedürfnisse oft wenig Beachtung fanden, war das Verdrängen eine Strategie, um mit den Herausforderungen des Lebens zurechtzukommen.
"Uns hat das nicht geschadet" – ist das vielleicht ein Schuldgeständnis? Der Satz "Uns hat das doch auch nicht geschadet" wird oft als Verteidigung von Erziehungspraktiken verwendet, die aus heutiger Sicht kritisch betrachtet werden. Doch was steckt wirklich dahinter? Vielleicht ist dieser Satz mehr als nur eine Meinungsäußerung. Er könnte auch ein Versuch sein, unangenehme Gefühle wie Schuld oder Unsicherheit zu umgehen. Denn wenn wir "nicht schaden" als Maßstab nehmen, stellt sich unweigerlich die Frage: Was, wenn doch?
"Nicht schaden zu wollen” – ein zu geringer Anspruch! Das Ziel, Kindern "nicht schaden zu wollen", mag auf den ersten Blick legitim erscheinen. Doch wenn wir ehrlich sind, ist es ein erstaunlich niedriger Anspruch an die Kindererziehung. Kinder verdienen mehr als nur das bloße Vermeiden von Schaden – sie verdienen Fürsorge, Respekt und Unterstützung, die ihnen ermöglichen, ihr volles Potenzial zu entfalten. Der Satz "Es hat uns doch auch nicht geschadet" legt jedoch den Fokus auf das Minimum: Das Kind hat überlebt, also war die Erziehung erfolgreich.
Doch was, wenn wir den Blick erweitern? Was, wenn wir uns fragen: Wie hätte es besser sein können? Welche Potenziale blieben vielleicht ungenutzt? Welche Prägungen haben uns als Erwachsene beeinflusst? Diese Reflexion kann unbequem sein, aber sie eröffnet die Chance, für zukünftige Generationen mehr zu tun, als nur “keinen Schaden anzurichten”.
Der Blick in die Zukunft
Es geht nicht darum, frühere Generationen zu verurteilen. Sie handelten nach bestem Wissen und den damaligen gesellschaftlichen Normen. Doch heute haben wir die Chance, aus den Erkenntnissen der Bindungstheorie und der Bindungsforschung zu lernen und Erziehungspraktiken zu hinterfragen. Indem wir die Bedürfnisse von Kindern ernst nehmen und ihre Emotionen achtsam begleiten und somit eine stabile Bindung aufbauen, geben wir ihnen ein sicheres Fundament für ihr Leben.
Die Reflexion über die Vergangenheit hilft uns, bessere Entscheidungen für die Zukunft zu treffen – ohne Schuldzuweisungen, aber mit dem klaren Ziel, unseren Kindern Halt und Stabilität in stürmischen Zeiten zu geben. Denn "es hat uns nicht geschadet" sollte nicht der Maßstab sein, den wir für unsere Kinder haben. Stattdessen dürfem wir uns fragen: Wie können wir sicherstellen, dass es den Kindern von heute wirklich gut geht? Und dafür brauchen sie uns!


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